KörperZeiten. Narrative, Praktiken und Medien

KörperZeiten. Narrative, Praktiken und Medien

Organisatoren
Isa Lohmann-Siems Stiftung
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Fand statt
Hybrid
Vom - Bis
10.02.2023 - 11.02.2023
Von
Anna Reinöhl / Laura Völz, Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Universität Hamburg

Der menschliche Körper ist immer auch ein Ort von Zeitlichkeit: als biologische Tatsache, soziale Konstruktion und Erfahrungsmedium. Eigenzeitliche und epochale Körperwahrnehmungen und Körperbilder unterliegen dabei stetigen Veränderungsprozessen. Die Tagung „KörperZeiten“ beschäftigte sich mit kulturellen und sozialen Formungen des menschlichen Körpers als zeitgebundene Phänomene. Im Mittelpunkt standen Fragen wie: Welche körperlichen Prozesse und Praktiken unterliegen zeitlichen Parametern? Wie schreibt sich Zeit in Körper ein, und wie bestimmen zeitspezifische Ideale den Körper und Vorstellungen von Körpern? Wie wird das Verhältnis von Körper und Zeitlichkeit visualisiert? Welche Körperbilder werden erinnert und archiviert?

FELIX JÄGER (München) betrachtete, geleitet durch die Perspektiven der Disability Studies, Porträts eines mittelalterlichen Adligen mit körperlicher Behinderung. Im Fokus stand die Aushandlung von Anpassung und Betonung von Differenz in der Plattnerkunst. Jäger zeichnete die durchaus von Diskontinuitäten geprägte Orientierung an einem humanistischen Leibesideal im ausgehenden Mittelalter nach. Einerseits wurden laut Jäger Behinderungen mit inneren Mängeln gleichgesetzt, andererseits seien durch die Materialität der angefertigten Rüstungen bestimmte Bewegungen erleichtert und verstärkt sowie der Körper einer Norm entsprechend modelliert worden. Jäger zeigte Strategien der Optimierung und der Erweiterung des menschlichen Körpers auf und machte die Rüstung als ein prothetisches und erfahrungsleitendes Objekt der Körperoptimierung sichtbar.

Der Vortrag von NINA ECKHOFF-HEINDL (Köln) beschäftigte sich mit der Biographie von Julia Pastrana, die Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund ihres als monströs und abnormal betrachteten Körpers im Rahmen sogenannter Freakshows ausgestellt wurde. Eckhoff-Heidl zeigte auf, wie in diesen Shows und der medialen Berichterstattung darüber Inszenierungen und Bewertungen abweichender Körper vollzogen wurden und Aushandlungen von Körper- und Geschlechternormen (männlich/weiblich Dichotomie) der damaligen Ausstellungs- und Inszenierungspraxis inhärent waren. Eckhoff-Heindl verwies darauf, wie Julia Pastrana auch in gegenwärtigen feministisch-künstlerischen Auseinandersetzungen als Figur aufgegriffen und erneut inszeniert wird; in diesem Fall vor allem mit der Intention, vermeintlich abnormale Körper zu normalisieren.

Anhand eines Freundschaftsbildes zeichnete FABIAN RÖDERER (Hamburg) nach, wie der Maler Ilya Mashkov in seinem Werk Männlichkeit, Zeit und Raum ins Verhältnis zueinander setzte. In Anlehnung an Judith Butler ging Röderer von der (körperlichen) Performativität von Geschlecht aus. Erst durch stete Wiederholung werde eine Illusion der Dauerhaftigkeit und Natürlichkeit geschaffen. Mashkovs Doppelporträt inszeniere dabei ein synthetisches Männerbild, welches an die Ideen des universellen Manns anknüpft. Dieses Männerbild werde durch die Dimension eines weiblich konnotierten Raums zusätzlich verstärkt. Mashkov zeigt auf diese Weise gleich verschiedene zeitlich bedingte Körpertechniken und inszeniert eine besondere Form von Hyper-Männlichkeit.

BODIE A. ASHTON (Erfurt) widmete sich in seinem Vortrag der Diskriminierung und Verfolgung von trans∗ Personen während des Nationalsozialismus. Grundlage dessen war die Rekonstruktion zweier queerer Lebensgeschichten aus Hamburger NS-Verwaltungsakten. Ashton zeigte, wie historische Akteur:innen abseits von normativen Geschlechtsidentitäten und -repräsentation lebten und wie sie dafür von staatlicher Seite stigmatisiert und inhaftiert wurden. Ashton schloss mit einem starken Plädoyer für die Aufarbeitung und Sichtbarmachung queerer Geschichte(n) Deutschlands, die historische Personen nicht auf Fallgeschichten reduziert, sondern in ihrer Komplexität und Menschlichkeit anerkennt. Auf Nachfragen aus dem Publikum positionierte Ashton sich klar für “queer” als inklusiven “umbrella- term”, um historische Identitäten und Erfahrungen abzubilden.

Anhand von Werken der zeitgenössischen Künstlerin Nicole Eisenman beschäftigte sich ANTJE KRAUSE-WAHL (Frankfurt am Main) mit Körper, Geschlecht und Zeit. Im Mittelpunkt stand eine in deren Werken angelegte queermotivierte Temporalitätskritik. Diese bezieht sich auf die Chrononormativität vergeschlechtlichter Lebensläufe, in der insbesondere das Kinder-kriegen zum unhinterfragten weiblichen Ideal erhoben wird. Eisenman kritisiert dabei in ihren Werken nicht nur eine Chrononormaitvität, sie bietet, so Krause-Wahl, auch konkrete Gegen- und Alternativentwürfe an. Exemplarisch hierfür stellte Krause-Wahl das “Kinderwesen” in den Werken Eisenmans als Denkfigur vor, die immer queere und monströse Eigenschaften vereint, aber zugleich weniger radikal ist als andere queere Figuren, wie etwa Zombies. Kritisch diskutiert wurde im Anschluss an den Vortrag die Frage der Zeitlosigkeit der “Kinderwesen” und eine damit verbundene Romantisierungsgefahr.

Die Archäologin AMELIE ALTERAUGE (Tübingen) widmete sich in ihrem Vortrag der Praxis neuzeitlicher Gruftbestattungen in Deutschland und fragte danach, wie sich diese vor dem Hintergrund überfüllter Friedhöfe und lokalen Machtdemonstrationen gesellschaftlich einordnen lassen. Sie thematisierte den religiös und sozial geprägten Umgang mit toten Körpern sowie deren Verbindungen mit zeithistorischen Jenseitsvorstellungen. Alterauge veranschaulichte darüber hinaus, wie sich Bestattungspraktiken zwischen christlicher Tradition, sozialer Repräsentation und Aufklärung über die Zeitepochen hinweg veränderten und sich dabei jeweils auch materiell und symbolisch in die Gestaltung von Särgen und Gruften einschrieben.

Der Vortrag von CONSTANZE WALLENSTEIN (Hamburg) setzte sich mit der fotografischen Inszenierung toter Revolutionärskörper auseinander. Zirkulierende Fotografie als solche bezieht sich, so Wallenstein, gleich in mehrerer Hinsicht auf KörperZeiten. In ihr verbinden sich dokumentarische Eigenschaften, aber auch (politische) Inszenierungen und bestimmte Rezeptionstraditionen. Am Beispiel zweier Totenfotografien von Che Guevara und Emiliano Zapata warf Wallenstein Fragen des medial-vermittelten politischen Körpers auf. In Anlehnung an Kantorowiczs Theorie der “Zwei Körper des Königs” deutete sie in den genannten Toten-Fotografien auf eine Inszenierung eines scheinbar dauerhaften Körpers hin, der den natürlichen und sterblichen Körper überdauere und vor dem Hintergrund einer Revolution trotz des toten Revolutionärs zu deren Fortführung aufrufe. In diesem Kontext verglich Wallenstein die Totenbilder Guevaras und Zapatas auch mit Jesus-Darstellungen und wies auf Ähnlichkeiten im Bildaufbau hin.

HENRIK OSTER (Lübeck) erläuterte aus Perspektive der Chronobiologie die biologischen Grundlagen der “inneren Uhr”, die unseren Tagesablauf strukturiert. Auch für größtenteils fachfremdes Publikum verständlich, erklärte Oster die Bedeutung des am Hypothalamus gelegenen Nucleus suprachiasmaticus (SCN), der lichtabhängig als Zentraluhr im Gehirn fungiert. Oster erläuterte den Zusammenhang von Körpertemperatur, Blutdruck und Melatoninspiegel in Bezug auf alltägliche menschliche Schlaf-Wach-Rhythmen. Auch Faktoren wie z.B. die Nahrungsaufnahme beeinflussen das zeitliche System des menschlichen Körpers, erklärte Oster. Durch Schicht- oder Nachtarbeit kann es zu inneren Desynchronisierungen kommen. Diese werden in der Chronomedizin z.B. durch Lichttherapie, Ernährungsumstellung oder die Einnahme von Medikamenten behandelt. Aktuelle Tendenzen, den eigenen Körper kontinuierlich zu optimieren und dessen Produktivität zu steigern, machen insbesondere Erkenntnisse zu den gesundheitlichen Risiken einer gestörten “inneren Uhr” besonders relevant.

Anhand der veröffentlichten Autobiographie von Anne McDonald setzte sich ROBERT STOCK (Berlin) mit dem Konzept der “Crip Time” auseinander. Letzteres beschreibt, wie durch körperliche Behinderungen eine besondere Form von Zeitlichkeit entstehen kann, die sich subversiv gegen institutionelle und gesamtgesellschaftlich normierte Zeit- und Bewegungsrhythmen und in ihr eingeschriebene Gewaltformen stellt. Im Fall von “Annie” sorgte bspw. das Buchstabieren für eine alternative Zeiterfahrung und -strukturierung. In Stocks Vortrag kamen Perspektiven der Science and Technology Studies (STS) mit Perspektiven der Disability Studies zusammen und informierten sich gegenseitig. Insbesondere im Kontext indigener Communities lenkte Stock in diesem Zusammenhang einen kritischen Blick auf die Langzeitfolgen von Umweltverschmutzung und -zerstörung und die Auswirkungen auf die in dieser Umwelt lebenden (nicht nur menschlichen) Körper.

CLAUDIA BRUNS (Berlin) beschäftigte sich mit der Verbindung von Körper, Raum und Zeit am Beispiel der Heiligen Drei Könige. Anhand von zeithistorischen Weltkarten zeigte sie die enge Verbindung von Körper- und Weltbildern. Materielle und symbolische Grenzen individueller, aber auch politischer Symbolkörper zeichnete sie dabei als Ergebnisse kollektiver Aushandlungsprozesse nach. Bis ins 15. Jahrhundert spielte Hautfarbe in diesen Vorstellungen kaum eine Rolle. Erst später wurden z.B. Kontinenten bestimmte Persona zugeordnet, über deren Hautfarben eine Hierarchisierung verschiedener Erdteile, also eine neue geographische Ordnung, konstruiert wurde. Erst im Zuge dessen fingen die Heiligen Drei Könige an, die damals bekannten drei Erdteile mittels unterschiedlicher Hautfarben zu symbolisieren und auf diese Weise einen universalen Geltungsanspruch des Christentums zu stärken. Erst ein kolonialer Prozess und neue Sehgewohnheiten, betonte Bruns, machten die Schwärzung und Hierarchisierung der Heiligen Drei Könige in diesem Kontext plausibel und festigten sie als Figuren in/der Zeit.

MANUEL BOLZ (Hamburg) beschäftigte sich mit dem komplexen Zusammenhang von Körper und Bekleidung am Beispiel des sogenannten Revenge Dress, einem schwarzen Cocktailkleid, mit dem Prinzessin Diana nach der öffentlichen Trennung von Prinz Charles für mediales Aufsehen sorgte. Bolz verfolgte die Objekt-Biographie dieses Kleides und wie es sich in die Zeitgeschichte einschrieb; von seinem legendären Auftritt 1994 über ikonische Fotografien in der zeitgenössischen Presse und öffentliche Kontroversen bis hin zur Musealisierung des Kleides und gegenwärtigen popkulturellen Aneignungen. Er erörterte die Inszenierung von Körperbildern vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Bewertungspraktiken und zeigte, wie insbesondere durch das Medium der Fotografie biographische Zäsuren markiert und Körper im sozialen, kulturellen und kollektiven Gedächtnis von Gesellschaften festgehalten, aber auch in gegenwärtigen Phänomen wie dem Revenge Body aktualisiert werden.

Die diesjährige Tagung der Isa Lohman-Siems Stiftung beschäftigte sich mit einem gesamtgesellschaftlich und wissenschaftlich aktuellen und relevanten Thema, das haben die vielfältigen und transdisziplinären Vorträge in Hamburg eindrücklich gezeigt. Demnach dienen Körper in der Erfahrung von Welt und für die Produktion von Wissen als ein zentrales Vermittlungsmedium, insbesondere auch, wenn es darum geht, Zeit zu verhandeln. Körper sind, so die übergreifende These der Vorträge, historisch, sozial und kulturell konstruiert.

Aus historischer Perspektive zeigte das erste Panel der Tagung, wie die Verkörperung von Zeit immer von wechselseitiger Bedingtheit, von Normierung und Devianz, von Idealen und Monströsität geprägt ist. Körper und Geschlecht dienen dabei in unterschiedlichsten Kontexten als Referenzgrößen, werden normiert, inszeniert und transformiert. Deutlich wurde, dass, auch wenn die Jetztzeit in dieser Hinsicht oft als besonders reflektiert gilt, Fragen der Vielfalt und der Vielheit schon viel früher virulent waren. Daraus ergeben sich eine ganze Reihe weiterer spannender Forschungsfragen. Felder, in denen es um Körper- und Zeitlichkeit geht, drängen sich insbesondere auch in Bezug auf die Vergänglichkeit menschlicher Körper auf. Das zweite Panel der Tagung beschäftigte sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit symbolischen und materiellen Verkörperungen von Leben und Tod. Teilweise versuchen Menschen vergängliche Körper festzuhalten, beispielsweise über das Medium der Fotografie. Zeiterfahrung gilt im Alltag als vermeintliche Urerfahrung, als fundamentale Bezugsgröße menschlichen Lebens. Das dritte Panel der Tagung verdeutlichte, dass KörperZeiten dabei einerseits subjektiv und andererseits natürlichen und biologischen Rhythmen unterworfen sind. Eng verbunden damit ist das Streben, Zeit optimal, kreativ und selbstbestimmt zu gestalten. Die Gegenwart ist geprägt von immer stärkeren Effizienzimperativen. Gerade deshalb lohnt es sich, selbstverständlich gewordene Zeitstrukturen kritisch und produktiv zu hinterfragen. Dazu zählt auch die Dekonstruktion auch über die Zeit verfestigter Sehgewohnheiten oder kolonialrassistischer Blickkonstruktionen, die unsere Lesart von Körper und Zeit bestimmen.

Fest steht, dass es weder in Alltagsdeutungen noch im wissenschaftlichen Kontext ein Entkommen vor Körper- und Zeitlichkeit gibt. Eine Analyse ist immer ein Sprechen in verschiedengestaltigen Bezügen – das war der Tenor vieler Tagungsdiskussionen. Gerade daran lässt sich der große Nutzen des Konzepts KörperZeiten festmachen. Es verweist auf komplex verbundene Interdependenzen, vermag auf Veränderungen spezifischer KörperZeiten hinzuweisen und tastet die Grenzen und Potenziale bestimmter Terminologien ab. Auch in diesem Jahr ist die Tagung dem Stiftungszweck voll und ganz gerecht geworden, indem sie einen interdisziplinären Dialog über die Themen Körper und Zeit und ihre multiplen gesellschaftlichen Erscheinungsformen ermöglicht hat. Jedes der präsentierten Forschungsfelder regt zum Weiterdenken an.

Konferenzübersicht:

Normierung, Inszenierung und Transformationen

Felix Jäger (München): Disability Design? Verkörperungen von Differenz und Anpassung in der Plattnerkunst des 15. Jahrhunderts

Nina Eckhoff-Heindl (Köln): Inszenierungspraktiken in Freakshows des 19. Jahrhunderts. Julia Pastrana und die Veränderlichkeit von Körpernormen

Fabian Röderer (Hamburg): Zeit und Raum des Künstlerkörpers in »Selbstporträt mit Porträt von Pyotr Konchalovsky« von Ilya Mashkov

Bodie A. Ashton (Erfurt): Trans*Körper als Frage der Staatssicherheit? Zwei Hamburger Fallstudien zur Verfolgung geschlechtsnonkonformer Menschen in der NS-Zeit

Performanz und Stillstand

Antje Krause-Wahl (Frankfurt am Main): Körper jenseits der Produktivität

Amelie Alterauge (Tübingen): Von Todesbildern, Körperkonzepten und Leichensäften – Neuzeitliche Gruftbestattungen in Deutschland zwischen christlicher Tradition, sozialer Repräsentation und Aufklärung

Constanze Wallenstein (Hamburg): Über den Tod hinaus. Zeitkonzepte in den posthumen Fotografien Emiliano Zapatas und Che Guevaras

Zeiterzählungen und Körperwissen

Henrik Oster (Lübeck): KörperZeiten – it’s in the genes!

Robert Stock (Berlin): Diskontinuierliche Zeitlichkeit: Crip Time und die Perspektive der Environmental Dis-/Humanities

Claudia Bruns (Berlin): Die Haut der Heiligen Drei Könige – Vom Aufkommen kolonialrassistischer Einschreibungen in den religiösen (Kollektiv)Körper

Manuel Bolz (Hamburg): Wie Phoenix aus der Asche? Populärkulturelle Narrative über Jugendlichkeit, Sexualität und den ‚weiblichen Körper‘ am Beispiel von Lady Di’s „Revenge Dress“

Christine Bischoff (Kiel): Fazit und Abschluss

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